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Sonntag, 10. Januar 2010

Eine Ebene höher denken – Sprachbetrachtung. Ein Essay.

Da haben wir's also: Der Deutschlehrer der Nation zieht ins Klassenzimmer ein! Von Kritikern argwöhnisch beäugt und dem Vorwurf einer zum Himmel schreienden Arroganz ausgesetzt, kommt Bastian Sick im Volke gut an: Im Saarland und nun als zweitem Bundesland in Niedersachsen steht er ab sofort in der Literaturliste für das Zentralabitur.
Die Frage muss erlaubt sein: Was sagt uns das? Da setzt einer sich hin und verfasst eine humorvolle Abhandlung über die Eigenarten der deutschen Sprache (“Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod”); sein Buch liegt 2004, hübsch mit Schleifchen dekoriert, unter so manchem Tannenbaum. Die Nation saugt das Werk begierig in sich auf. Nie hat uns jemand auf so außergewöhnliche Art und Weise aufgefordert, über unsere Sprache nachzudenken. Nie haben wir die Gesetzmäßigkeiten, aber auch den verbalen Schrott, der täglich auf uns einwirkt, so intensiv mit unserer Aufmerksamkeit bedacht.
Warum analysiert einer dergestalt die Sprache? Man hat den Eindruck, als mache es ihm auch noch Spaß, seinen Mitmenschen so beflissen, ja oft auch ketzerisch aufs Maul zu schauen. Dabei ist doch der Stoff, aus dem der Autor sein Stück erschaffen hat, die Basis dessen, woran wir alle angewidert zurückdenken: unser eigener Grammatikunterricht. Nichts ist uns so verhasst wie die Erinnerung daran, willkürlich ausgewähltes Sprachgut untersuchen zu müssen, das schonungslos seinem Kontext entraubt worden ist. Wie erniedrigend war es für so manch einen im Klassenzimmer, wenn er vor aller Ohren den Dativ nicht vom Akkusativ unterscheiden konnte. Sechs, setzen.
Sprachbetrachtung begegnen wir im klassischen Grammatikunterricht eben nur in dieser stupiden Form: Die Stunden sind zäh und langweilig, der Stoff alltagsfremd. Dabei betrachten wir unsere Sprache andauernd im täglichen Leben: In Momenten, in denen wir einen Text verfassen und uns zwischen einem Komma und einem Punkt entscheiden müssen, oder im Gespräch mit dem Vorgesetzten, indem wir uns mit der Wahl unserer Worte der erforderlichen Situation anpassen. Das alles geschieht unbewusst; wir achten meist nicht darauf. Es fällt uns jedoch außerordentlich schwer, diese Vorgänge zu beschreiben.
Dabei haben wir ein starkes Instrument zur Hand: die Metasprache. Wir benutzen sie, um die Elemente unserer Sprache zu bezeichnen; sie hilft uns, Ordnung zu halten in unserer sprachlichen Werkzeugkiste. Im Gegensatz zu allem Unmenschlichen leisten wir uns zwei Sprachen auf einmal: Warum sollten wir dann auch nicht beide Sprachen sprechen?
Doch dies setzt drei Dinge voraus. Wir müssen erstens Distanz gewinnen: Wer beschreiben will, muss einen Schritt zurück treten vom Gegenstand seiner Analyse; nur aus der gebotenen Distanz heraus werden ihm Dinge auffallen, die ihm unbewusst keine weitere Überlegung Wert gewesen wären. Zweitens müssen wir unsere Sprache deautomatisieren, um sie gedanklich durchdringen zu können. Das hat einen Nachteil: Wenn wir uns intensiv auf das sprachliche Phänomen einlassen (und dementsprechend den Automatisierungsprozess aufheben), kommt es auf der anderen Seite zu Verstehensverlusten. Aber sind wir auch bereit, dies in Kauf nehmen – auf Kosten der Lesegeschwindigkeit? Drittens heben wir den Gegenstand unserer sprachlichen Untersuchungen immer aus dem Ursprungskontext heraus: Wörter werden nach Eigenschaften gegliedert und in der Schule meist im Umfeld ihrer Familie betrachtet. Diese Kategorisierung hilft einerseits dabei, die Sprache funktional zu systematisieren, bietet aber keinen besonders großen Anreiz, sich im Unterricht zumindest in dieser Form mit ihr auseinanderzusetzen.
Sprachbetrachtung ist mehr als traditioneller Grammatikunterricht. Sie bietet über das bloße Definieren von grammatischen Kategorien vor allem eins: Die Auseinandersetzung mit sich selbst. Wer bereit dazu ist, sein sprachliches Handeln beständig zu beobachten, zu analysieren und gegebenenfalls zu verwerfen, der wird ein feines Gespür dafür entwickeln, welche Sprache in welcher Situation angemessen ist. Das wird ihn zwangsläufig zu einem beliebten Gesprächspartner (oder Autoren) machen, sofern er sich nicht dazu verleiten lässt, seine Bereitschaft zum reflexiven Umgang mit Sprache herablassend zur Schau zu stellen.
Die Sprache hat mehr Beachtung verdient! Es ist nicht länger zu ertragen, wie respektlos mit ihr umgegangen wird! Sicher gibt es engagierte, sprachbegeisterte Lehrer, die den grammatischen Teil ihres Unterrichts facetteneich gestalten, aber oftmals ist er viel zu verstaubt und zu starr, um bei den Schülern die Lust aufs Experimentieren zu wecken. Lernen durch Nachahmung, unter diesem Motto sollte der neue Grammatikunterricht stehen. Das setzt jedoch voraus, dass der Lehrer selbst ein gewisses Maß an sprachlichem Einfühlungsvermögen mitbringt. Und: Er muss authentisch wirken, wenn er seine Schüler dazu anleiten will, der Sprache mit Respekt zu begegnen.
Offensichtlich aber braucht es da so jemanden wie Herrn Sick, der, nicht als erster, aber sicher als einer der bekanntesten Sprachkritiker auf humorvolle Art und Weise versucht, das Licht der sprachlichen Weisheit in die Welt zu tragen. Zumindest steht er nun auf dem Lehrplan – und das soll, man stelle sich die konservativen Sprachkritiker vor, schon was bedeuten.

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